Sonnabend-Serie: Das Abendblatt stellt Stormarner und ihre Berufe vor. Wir begleiten sie einen Tag oder eine Schicht lang, beobachten sie und lassen sie erzählen. Heute: Beata Stahl, Saisonarbeiterin in Reinbek

Jeder kennt sie, jeder liebt sie. Die roten, süßen Früchte, die derzeit wieder überall auf den Märkten, in Lebensmittelgeschäften und an der Straße angeboten werden. Erdbeeren. Ihre Ernte ist ein wahrer Knochenjob. Mehrer Stunden täglich knien und hocken Erdbeerpflücker auf Feldern in Schleswig-Holstein, damit wir Erdbeeren essen können. Die meisten Pflücker kommen aus osteuropäischen Ländern. Eine von ihnen ist Beata Stahl aus Polen.

4 Uhr: Der Wecker klingelt, eine Stunde später wird schon gepflückt
Ihr Tag beginnt früh. Schon um vier Uhr klingelt ihr Wecker. Dann werden Brote geschmiert, wird Kaffee für den ganzen Tag gekocht. Den braucht sie, denn ihr Tag kann lang werden. Je nachdem, wie reif die Erdbeeren sind und wie groß die Nachfrage an den Verkaufsständen ist, zieht sich der Pflücktag in die Länge. Um fünf Uhr beginnen Beata Stahl und zehn weitere Pflücker aus Polen auf den Reinbeker Erdbeerfeldern von Hans-Jörg Carstensen mit der Arbeit, dann, wenn kaum Autos über die sonst viel befahrene Hamburger Straße rollen und nur aus wenigen Fenstern Lichtkegel zu sehen sind.

Raureif liegt auf den Blättern, die Luft ist kühl der Boden feucht. Beata Stahls Morgen ist durchstrukturiert bis ins Detail, genauso wie die Schichten ihrer „Arbeitskleidung“. Eine regenabweisende Jacke, eine Fleece- und eine Baumwolljacke, ein Langarmshirt, ein T-Shirt, ein Spaghettihemdchen – „Zwiebelprinzip“, erklärt sie. Das sei das Beste für die Arbeit. Denn es könne mal kalt, mal ganz schön warm werden. Temperaturen von zehn bis 35 Grad Celsius sind zwischen Mai und Ende Juli – die Erdbeersaison – möglich. Es kann stark regnen, nieseln, kalter Wind über die Felder ziehen oder die Sonne vom Himmel brennen. Für alles müssen sich die Erdbeerpflücker wappnen.

9 Uhr: Der Anhänger mit Erdbeerkartons füllt sich
„Heute ist das Wetter gut, nicht zu heiß, kein Regen“, sagt Beata Stahl während sie in Gummistiefeln zu dem abgestellten Traktoranhänger wandert, auf dem die leeren Erdbeerkartons lagern. Sie greift sich zwei und ruft einem Kollegen etwas auf polnisch zu. Der nickt und lacht. Es werde viel gelacht. „Das muss“, sagt Stahl und zieht das U dabei bedeutend in die Länge. Denn die Arbeit sei anstrengend und monoton.
Kurz darauf arbeitet sie sich bückend und kniend eine der vielen Erdbeerpflanzen-Reihen entlang. Mit den Händen durchwühlt die 38-Jährige die grünen Blätter, auf der Suche nach roten, reifen „Honeoye“-Früchten, eine Erdbeer-Frühsorte, die noch bis Ende nächster Woche geerntet wird. Es läuft fast automatisch. Und es dauert nur wenige Minuten, bis der erste Kilokorb von Beata Stahl voller Beeren ist. Der zweite, der dritte, … Bis neun Uhr hat sich der Anhänger mit zahlreichen vollen Erdbeerkartons gefüllt.
„Wenn es gut ist, dann schaffe ich zehn Körbe in einer Stunde“, sagt sie. Ihr falle die Arbeit leicht. Der Rücken sei gesund, ihr Körper klein, der Weg zum Boden nicht so weit. Doch heute laufe es trotzdem nicht so gut. Viele der Beeren sind noch nicht ganz reif, haben noch viele grüne Stellen. „Die Frühsorte ist dieses Jahr etwas problematisch“, erklärt Landwirt Hans-Jörg Carstensen später, der bis zu fünf-, sechsmal am Tag mit seinem hellblauen Transporter zum Feld fährt und die vollen Erdbeerkartons abholt, um sie zu den Verkaufsständen zu fahren.

10 Uhr: Beata Stahl setzt sich mit den anderen ins Gras und frühstückt
Um zehn Uhr machen die Pflücker für 15 Minuten Pause, legen Pappen ins Gras, holen Brote und Kaffee heraus. Für Beata Stahl ist es die zweite Erdbeerpflück-Saison in Reinbek. Andere sind schon länger dabei. So wie der 44- jährige Zdzislaw Cichi. Seit zwölf Jahren kommt er zu Landwirt Hans-Jörg Carstensen nach Reinbek, um von Mai bis Ende Juli zusammen mit anderen polnischen Pflückern bis zu 2000 Kilo Erdbeeren von den niedrigen Pflanzen zu zupfen und sie in die Stiegen zu werfen, die kurze Zeit später in einem der derzeit vier kleinen Stände am Straßenrand verkauft werden. „Zdzislaw ist ein bisschen so etwas wie kleiner Chef“, sagt sie lachend und ruft ihm auf polnisch etwas zu. Er schaut ein wenig schüchtern und lacht.
„Er ist Profi“, sagt Stahl und arbeitet neben ihm die Pflanzenreihe ab. Zwischendurch plaudern sie, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Dann und wann steckt sich Cichi eine unreife Beere in den Mund, die er versehendlich erwischt hat, die so aber nicht verkauft werden kann. Gesprächsthemen zwischen den beiden gibt es viele. Sie kennen sich seit 20 Jahren, kommen beide aus dem kleinen Dorf Cierzpiety in Masuren. Auf Cichis Kopf thront ein weißer Strohhut, der soll vor der Sonne schützen. „Ja, die Sonne ist hier gratis und die frische Luft“, sagt Stahl. Arbeit mit Sonnenstudio sei das. Sie beschreibt den Job als Erdbeerpflückerin so charmant, als sei es die schönste Arbeit der Welt.

12.30 Uhr: Landwirt Carstensen holt Erdbeeren für die Verkaufsstände
„Aber es ist ein richtiger Knochenjob“, sagt Landwirt Carstensen, der etwas in Eile ist. Es ist 12.30 Uhr. Der Kiosk an der Hamburger Straße habe kaum noch Erdbeeren, aber dafür viele Kunden. Er selbst habe letztes Jahr einen Tag mitgepflückt und wisse, wovon er rede. „Das ist sehr anstrengend, geht auf den Rücken, auf die Knie. Und der Arbeitstag kann auch mal zwölf Stunden lang sein“, sagt Carstensen. Sicher auch ein Grund, warum Deutsche nur selten die Arbeit machen wollten. Zudem sei es vielen zu wenig Geld. Carstensen zahlt nach eigenen Angaben 7, 50 Euro pro Stunde. Für Beata Stahl ist das viel Geld. „Zwei Monate hier arbeiten ist wie ein Jahr in Polen“, sagt sie. Arbeit habe sie dort immer gefunden, nur gereicht habe es nie.
Deshalb lebt und arbeitet sie seit etwas über einem Jahr in Deutschland. Nicht nur mit Erdbeerenpflücken verdient sie ihr Geld, seit März hat sie auch einen Arbeitsvertrag in einem Altenheim in Reinbek, in dem sie halbtags arbeitet. Außerdem geht sie abends hin und wieder putzen. „Viel Arbeit, ja. Aber das muss. Und ist ehrlich“, sagt sie. Sie will sparen. Denn im Herbst müsse sie kürzer treten, will sich mehr auf das Lernen der Sprache konzentrieren und einen mehrstündigen Sprachkurs an der Volkshochschule belegen. Nur sprechen reiche nicht. Grammatik sei wichtig, auch Rechtschreibung. Noch spricht Stahl wenig Deutsch, in ihrer Jackentasche trägt sie deshalb immer ein kleines Wörterbuch. Sie will täglich dazu lernen. Auch, damit sie sich irgendwann vielleicht einen Wunsch erfüllen kann. „Ich habe in Polen in einem Blumenladen gearbeitet. 15 Jahre lang. Ich würde auch gern in Deutschland mit Blumen arbeiten. Aber dafür muss ich noch mehr deutsch lernen“, sagt sie und zupft weiter Erdbeeren.
Sparen will sie aber auch, weil sie nach der Saison ein paar Tage Urlaub mit ihrer Tochter Pauline, 19, an der Ostsee verbringen möchte. Sie hat sie im Januar zuletzt gesehen. „Bis dahin noch viel Arbeit, aber das muss.“

 

Hier kann selbst gepflückt werden

Frisch gepflückt schmecken Erdbeeren am besten. Und dann sind sie auch am gesündesten, denn der Vitaminund Aromaverlust beginnt bereits fünf Stunden nach der Ernte. Wer sich sein Körbchen voller roter Beeren selbst füllen möchte, sollte unbedingt darauf achten, dass die Früchte von oben bis unten rot sind, da sie, sobald sie einmal gepflückt sind, nicht mehr nachreifen. Selbstpflücker-Felder gibt es in Stormarn in mehreren Orten: Bernekehof in Barsbüttel, gegenüber der Straße Rähnwischredder 5; Erdbeerhof Glantz in Delingsdorf an der Lü- becker Straße, in Ammersbek an der Hamburger Straße, an der Landstraße 89 zwischen Bargteheide und Hammoor sowie in Oststeinbek an der Möllner Landstraße. (hann)

 

Die meisten Pflücker sind Osteuropäer

Erdbeerpflücker werden kann prinzipiell jeder. Die meisten Erdbeerhö- fe stellen jedoch seit Jahren vor allem Saisonarbeitskräfte aus dem osteuropäischen Ausland ein. Seit der Einführung der Arbeitnehmer-Freizügigkeit im Januar 2011 brauchen Polen, Tschechen, Slowaken, Letten, Esten, Litauer, Ungarn und Slowenier keine Arbeitserlaubnis-Genehmigung für Deutschland mehr. Die Stundenlöhne variieren von Betrieb zu Betrieb. Sie liegen im Durchschnitt bei 6,50 Euro. Hans-Jörg Carstensen zahlt nach eigenen Angaben seinen Pflückern 7,50 Euro Stundenlohn, hinzu komme eine private Krankenversicherung. Auch können die Pflücker kostenfrei in einem Reinbeker Einfamilienhaus wohnen. (hann)

Hamburger Abendblatt 9/10.06.2012